Letter on 4th of May 1998, slightly modified on 2nd of June, message unchanged

4. Mai 1998, 18.20 Uhr

Bergpredigt (Lukas 6,20 ff):
Als erstes fiel mir auf: Als Jesus sagt: "Glücklich seid (ihr), die Armen; denn euch gehört das Reich Gottes.", da schaut er dabei ausdrücklich seine Jünger an.

Dann las ich: "Weh euch, den Reichen!" Ich dachte mir: "Ja, heute sah ich auch so einen neureichen Emporkömmling. Ich weiß, wem sie/er diente oder dient; und was man von dem schlucken muß, um bei ihm beliebt zu sein; und bei was und in welcher Form man ihm nicht widersprechen darf." Bestärkt durch das "Weh euch, den Reichen!" fing ich an, eine Abneigung aufzubauen. Ich brauchte nämlich ein Hilfsmittel, um dem Emporkömmling nicht neidisch zu sein. Viermal kommt da in der Bergpredigt das "Weh euch" vor (vgl. WWW = WorldWideWeb).

Aber dann las ich (Lk 6,27):"Aber euch, die ihr hört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. ..." Man darf nicht übersehen, daß hier die Feinde weiterhin "Feinde" und nicht "Freunde" genannt werden. Mit der Feindesliebe ist also kein Zwiedenken, kein Sich-Anlügen gemeint.

Kant hat ein Stück weit recht, wenn er Feindesliebe folgendermaßen analysiert: Sie ist eine Liebe aus Pflicht, nicht aus Neigung. Er hat insoweit recht, als sie nicht Zuneigung zu einem Feind bedeutet, sondern sich in der Praxis (Taten, Worte, Gedanken) auswirkt.

Aber auch bei der Feindesliebe soll Neigung eine Rolle spielen: Man soll den Feinden Gutes tun, weil auch der Vater das tut (Lk 6,35), und damit er einen sein Kind nennt. Dadurch, daß der Vater Vorbild ist, distanziert man sich bei der Feindesliebe von den Feinden. Man kann weiterhin den Reichtum der Reichen verachten, man kann weiterhin das "Weh euch, ihr Reichen" im Ohr behalten, und man soll sich erinnern an den Tag des Zorns, "der nahe ist". Dieser Tag des Herrn (vgl. die drei Wehe in der Apokalypse) kommt von dem gleichen Vater, der jetzt noch Chancen zur Umkehr gibt.

Ich habe noch nicht genau verstanden, was "Feinde lieben" genau bedeutet. Um Feindesliebe von der Zuneigungsliebe zu unterscheiden wollte ich für mich persönlich mal ein neues Wort suchen. Mir ist bis jetzt nur " Feindes-Fairneß " eingefallen. Aber das Wort fairness drückt noch nicht alles aus. Denn der Vater ist mehr als fair zu den Feinden.

Eines heißt lieben ganz bestimmt: "nicht hassen". Im Traum sah ich einmal über der Tür eines Menschen, von dem Feindschaft ausging, das Schild: KEIN GROLL
Anfangs interpretierte ich den Traum jedoch zu seicht. Mir war noch nicht klar, daß man zwar nicht die Reichen hassen darf, wohl aber ihre Reichheit. Und wenn von angesehenen Menschen Gift ausgeht, dann will ich nicht auch verseucht werden.

Dazu fällt mir ein, wie im Colonnel Chabert (Balzac) der Colonnel seine Frau verabschiedet, als er sie bei ihrem Verrat ertappt hat: (ca.) "Ich verfluche dich nicht. Ich verspüre nicht mal den Wunsch nach Rache. Aber ich verachte dich. Geh mir aus den Augen. Mir wird so schlecht, wenn ich dich sehe."

Zuletzt erinnere ich noch an Jesu Befehl, den Staub von den Füßen abzuschütteln und wegzugehen, wenn jemand das Zeugnis nicht annahm. Das ist mehr als eine Geste, denn Sodom und Gomorra wird es beim Gericht erträglicher ergehen als diesen, sagt Jesus.

Wenn ich von jemandem nicht genau weiß, ob er mein Feind ist, dann nenne ich ihn für mich einen "Verdächtigen".

Wenn ich von "dem Feind" schreibe, meine ich normalerweise den Satan, der von der Feindesliebe nicht betroffen ist. Denn "Feindesliebe" faßt Jesu Satz zusammen: "Liebt eure Feinde.", also nicht Gottes unverbesserlichen Feind. Das paßt dazu, daß Jesus sagt: Sogar Lästerungen gegen den Menschensohn können vergeben werden. Aber nicht Lästerungen gegen den heiligen Geist. (siehe dazu der Beitrag zu dem Wort "Heiliger Geist" bei den Bibelstellen unserer Homepage im Internet).

5. Mai 1998, 10.30 Uhr

Haß oder Toleranz? Nur blinde oder arglistige Lehrer und Führer stellen diese beiden Möglichkeiten als die einzigen beiden hin. Jesu Feindesliebe ist weder Haß noch das, was man landläufig unter Toleranz versteht. Denn diese Toleranz sagt nicht wie Jesus: "Weh Euch!", sondern: "O.K.".